Duisburg. In der Wohnung der Vietors, im ersten Stock eines charmanten Altbaus nahe des Duisburger Theaters, bestimmt Kultur das Interieur. Ein hellbrauner Flügel steht spielbereit im Hintergrund. Die Regale sind voll mit Büchern. Auch auf dem Beistelltisch neben dem Ohrensessel stapelt sich Lektüre. „Das sind meine nächsten Aufgaben“, sagt Friedemann Vietor und lächelt. Der Duisburger mit der großen Brille, dem grauen Bart und der stets akkurat geknoteten Krawatte ist in den vergangenen Jahren zu einer Internetpersönlichkeit geworden. Als „Leseopa“ begeistert er unterschiedliche Generationen. Sein gleichnamiger YouTube-Kanal hat inzwischen etwa 55.000 Follower – eine beachtliche Zahl für einen Buchhändler im Ruhestand. Mehr als tausend Vorlese-Videos von jeweils einigen Minuten Länge hat er mit seiner eingängigen Stimme bereits eingesprochen.
Ob „Zeus und das Schaf“ von Gotthold Ephraim Lessing oder „Walter der Wurm“ aus einer erfolgreichen Kinderbuchreihe – fast täglich nimmt der 82-Jährige mit seinem Handy ein neues Vorlesevideo auf. „Es macht mir nach wie vor große Freude. Deswegen mache ich auch weiter, solange ich noch kann.“ Das ist nicht einfach so dahingesagt. Friedemann Vietor hat akute Leukämie. Am 6. März bekam er die Diagnose. Seitdem weiß er, dass er unheilbar krank ist. „Mit dieser Nachricht musste ich erst einmal fertig werden“, erzählt er in seinem Wohnzimmer. Doch er will sich „nicht unterkriegen“ lassen, wie er sagt. „Wenn ich nur traurig in der Ecke sitzen würde, würde es mich umso schneller erwischen.“ Friedemann Vietor wirkt, als habe er sich mit seiner Situation arrangiert.
Doch betroffen ist auch seine Frau Inge. Und sie hat, wie sie erzählt, arg mit der Krankheit ihres Mannes zu kämpfen: „Ich kann es nicht so leichtnehmen wie er.“ Die Monate nach der Diagnose seien schlimm gewesen. Sie entwickelte eine schwere Depression und ist in therapeutischer Behandlung. Sie traute sich kaum aus dem Haus aus Angst um ihren Mann, hat sich „ziemlich tief vergraben“. Ihre Tätigkeit als Musiklehrerin und Unterstützerin an einer Grundschule musste die 73-Jährige aufgeben – zu groß ist das Risiko, dass sie Erreger aus dem Klassenzimmer mitbringt, denen der stark immungeschwächte Palliativpatient nichts entgegenzusetzen hätte.
Unterstützung erhält Inge Vietor von ihren Kindern – und von Lothar Schröder. Der 71-Jährige ist ehrenamtlicher Mitarbeiter des Ambulanten Palliativ- und Hospizdienstes des Malteser Hospizzentrums St. Raphael in Duisburg. Alle zwei Wochen besucht er das Ehepaar in dessen Wohnung und unterhält sich vor allem mit Inge Vietor. „Herr Schröder hilft mir in erster Linie dadurch, dass er einfach da ist“, sagt sie. Derzeit plant sie, einige kurze Spaziergänge mit dem ehrenamtlichen Helfer zu unternehmen. So will sie Stück für Stück wieder festen Boden unter die Füße bekommen. Für diese Hilfe ist auch ihr Mann sehr dankbar.
„Viele Menschen denken bei Hospizdienst ausschließlich an Angebote für die unheilbar Erkrankten. Doch auch die Angehörigen brauchen und bekommen Unterstützung“, sagt Lothar Schröder, der sich seit mehr als fünf Jahren in diesem Bereich engagiert und vorab eine mehrmonatige Schulung besucht hat. Die Möglichkeiten einer zeitweisen Entlastung von Angehörigen sind vielfältig und richten sich nach dem Bedarf der jeweiligen Familie. Sie reichen von Gesprächsangeboten über Spielstunden mit Kindern bis zu „Sitzwachen“ bei bettlägerigen Patienten. Betroffene mit einer palliativen Diagnose und ihre Angehörigen können sich bei Fragen oder dem Wunsch nach Unterstützung an den Ambulanten Palliativ- und Hospizdienst am Malteser Hospizzentrum St. Raphael wenden. Das Angebot ist kostenfrei und wird über die Krankenkassen gefördert.
Hier geht es zum YouTube-Kanal „Leseopa" von Friedemann Vietor.
Kontakt:
Malteser Hospizzentrum St. Raphael
Ambulanten Palliativ- und Hospizdienst
Remberger Straße 36
47259 Duisburg
Telefon: 0203 6085 2035
www.malteser-straphael.de